Die Vorfreude ist groß, die Erwartungen hoch, und viel zu schnell ist sie vorbei: die schönste Zeit des Jahres, auf die wir so lange hingearbeitet haben. Ein Stückchen des kostbaren Urlaubsfeelings im Alltag zu bewahren, das ist das Ziel der App “Holidaily.” Erholungsforscher aus Lüneburg haben sie entwickelt.
Nach der Diplomarbeit stieg ich in ein Flugzeug und ließ alles hinter mir: lange Nächte im Labor, abgelehnte Zulassungsanträge, die Druckerkatastrophe kurz vor Abgabe.
Sechs Wochen Mexico brachten Abstand und neue Perspektiven. Runderneuert und frisch verliebt kam ich zurück, mit dem Gefühl “Arbeit, ach ja, da war doch was….” Noch Monate zehrte ich von der Erholung. Und ein Wochenende an der Nordsee reichte, um zwischendurch die Batterien wieder zu laden und weiterzumachen.
Heute funktioniert das nicht mehr. Arbeit und Schule geben Termine vor. Wer kann schon sechs Wochen weg? Und Rucksackurlaub mit Säugling? Dann doch lieber zehn Tage Ferienwohnung an der Ostsee. Minigolf und Strandspaziergang fühlen sich auch gut an. Und auch der Heimweg ist so angenehm kurz. Schon ist man wieder mittendrin: Der Job fordert Verantwortung, die Familie hält einen auf Trab, die Software nervt und dann geht auch noch der Geschirrspüler kaputt. Eine wage Erinnerung schimmert gelegentlich durch: “Urlaub, ach ja, da war doch was…”
Diese Erinnerung stärken soll jetzt eine App, die Forscher der Leuphana Universität Lüneburg entwickelt haben. Sie soll uns dabei unterstützen, den Erholungseffekt unserer wertvollen Urlaubstage für eine längere Zeit im Alltag zu erhalten. Urlaubsreife können an einer Studie teilnehmen und die App mit Namen “Holidaily” testen. Bei uns steht eigentlich kein Urlaub an, für meinen Blog darf ich die App aber trotzdem testen. Meine Arbeit besteht also in den nächsten zehn Tagen darin, mich wie im Urlaub zu fühlen!
6.30, ein regnerischer Morgen nach einer ziemlich unruhigen Nacht. Holidaily fordert mich auf, meinen nächsten Urlaub zu planen. Morgen soll es losgehen. Ich bleibe realistisch und gebe Waren an der Müritz als Ziel ein. Dazu darf ich ein Bild abspeichern, das suche ich mir aus dem Internet. Hmmm, in Waren scheint immer die Sonne. Lauter Bilder von blauem Wasser und weißen Booten vor strahlendem Himmel. Ich speichere das schönste ab und genieße den Anblick. Holidaisy, eine kleine Figur im roten Kleid wird meine Urlaubsbegleitung; zur Auswahl stand auch Holidave im blauen Hemd. Dann gebe mittels einer Reihe von Schiebereglern u. a. an, wie viel ich an die Arbeit denke, wie selbstbestimmt ich mein Leben gestalte, wie nahe ich mich anderen Menschen fühle und ob ich Herausforderungen meistere. Jeweils einen Wert für die vergangene Woche, einen für den letzten Urlaub und eine Zielvorgabe für die Zeit nach dem kommenden Urlaub stelle ich ein. Diese Parameter nutzt die App um mein Erholungsprofil zu errechnen.
Unter dem Stichwort “Befinden” kann ich an jedem Urlaubstag angeben, wie angespannt oder wie energiegeladen ich mich gefühlt habe. Ich schiebe spaßeshalber ein wenig an den Schiebern herum, und siehe da: Eine energiegeladene und wenig angespannte Holidaisy hält lächelnd eine dampfende Tasse Kaffee in der Hand. Die Frau passt zu mir! Und Punkte gibt’s auch dafür.
Mir fällt ein Zitat von Studienleiter Professor Dirk Lehr zur Entwicklung der Urlaubsapp ein: “Wir haben Holidaily mit einem Augenzwinkern gestaltet.” Das passt zu meinem ersten Eindruck. Schon blinzelt an diesem verregneten Morgen eine kleiner Sonnenstrahl durch die niedersächsische Wolkendecke.
Als ich später mit dem Kind auf dem regennassen Spielplatz sitze, blättere ich wieder in der App. Einen Daily soll ich machen, eine kleine tägliche Übung, die mir hilft, mich zu erholen. Für den heutigen letzten Tag vor meinem virtuellen Müritzurlaub schlägt Holidaily mir vor, shoppen zu gehen. Zwar hat die App verschiedene Varianten davon im Angebot (etwas Nützliches für den Urlaub besorgen oder einen ungewöhnlichen Laden besuchen), aber shoppen ist für mich in jeder Form purer Stress. Selbst als wohlmeinende Herausforderung ist mir das heute zu anstrengend. Ich frage mich kurz, ob ich Holidave als Begleiter hätte wählen sollen. Und zum Glück kann ich mir einen eigenen Daily definieren. Ich erstelle Fahrradfahren als Übung, die mir helfen soll, den Kopf frei zu kriegen und etwas zu leisten – zwei meiner definierten Ziele für diesen Testurlaub. Während das Kind Mittagsschlaf macht, schlüpfe ich also geschwind aus meinen sandigen Gummistiefeln in leichte Klamotten und radele – Kind im Anhänger – um den Hannoverschen Maschsee. Zwischendurch geb ich so richtig Gas, ich will ja was leisten. Dann markiere ich meinen Daily als erledigt. Und streiche richtig viele Erholungs-Punkte ein!
In den folgenden Tagen begleitet mich Holidaily. Vormittags fordert es mich auf, meinen Daily zu erledigen. Das können kleinen Aktivitäten sein wie ein Spaziergang oder eine Stadterkundung, oder mentale Übungen, die die Achtsamkeit stärken. Einmal denke ich beispielsweise an eine Person, die für mich ein Vorbild war und eine wichtige Rolle in meinem Leben gespielt hat. Wie ist sie wohl damit klar gekommen, Morgen für Morgen viel zu früh von ihren Kindern geweckt zu werden?
Oder die App ruft mich zur Beschränkung auf: Nur drei Fotos soll ich an einem Tag machen! Eine echte Herausforderung für eine Fotografin, selbst an einem Tag ohne Job.
Natürlich gehört auch die gelegentliche Online Abstinenz zu den Aufgaben, die Holidaily dem Urlauber stellt. Und natürlich frage ich mich, ob das nicht ein Paradox ist: Erholung übers Smartphone zu vermitteln, das wir doch lieber öfter mal beiseite legen sollten.
“Ein wenig nehmen wir uns mit diesem Daily selber auf die Schippe,” sagen dazu die Entwickler der App. Da ist es wieder das Augenzwinkern. Aber im Ernst: “Selbstverständlich soll die Holidaily-App nicht dazu führen, dass unsere Teilnehmer mehr Zeit mit dem Smartphone verbringen als sowieso schon.” Höchstens fünf Minuten sollen sie täglich die App benutzen, die eigentlichen Übungen finden weitestgehend offline statt. “Wichtig war uns der maximal niedrigschwellige Zugang zu den Nutzern,” erklärt Studienleiterin Jo Annika Reins, warum sie sich trotz des scheinbaren Konfliktes für eine App als Medium entschieden haben.
Ich entdecke den Daily “handyfrei” am Morgen des letzten Sonntages meines Virturlaubs, gerade noch rechtzeitig, um das Smartphone für den Rest des Tages in die Ecke zu verbannen. Was für ein Genuss!
Viele der kleinen “Entspannungsaufträge” gefallen mir. In einen echten Urlaub ließen sie sich bestimmt noch besser integrieren als in meinen Experimentalurlaub, der ja neben dem Alltag her verläuft. Jedem Daily kann ich, wenn ich möchte, ein passendes Bild zuordnen. Und mir notieren, wie es mir dabei gelungen ist, die Arbeit zu vergessen, mich anderen Menschen nahe zu fühlen oder eine Herausforderung zu meistern. Habe ich mit dem Daily etwas für mich selber getan, fragt die App. Und gibt mir Punkte dafür. Zugegebenermaßen zögere ich kurz: Ein Bild von mir selber mit nackten Beinen in Gummistiefeln in die App hochladen? Damit die Forscher beim Auswerten auch was zu schmunzeln haben? Und meine persönlichen Gedanken dazu? Die poste ich doch auch nicht in meinem Blog! Frau Reins beruhigt mich: “Holidaily ist so programmiert, dass persönliche Inhalte wie Fotos und Notizen nicht übermittelt werden und/oder von uns ausgewertet, sondern nur lokal auf dem Gerät gespeichert. Wer möchte kann also auch guten Gewissens Bikini-Bilder reinladen.”
Gegen Abend meldet sich Holidaily dann noch einmal und fragt mich, wie es mir den Tag über ergangen ist. War ich angespannt? Oder energiegeladen? Auf einer Kurve kann ich verfolgen, wie sich meine Erholung entwickelt. Erwartungsgemäß ist ein Experimentalurlaub nicht ganz so erholsam wie ein echter, aber immerhin, die Kurve steigt langsam an.
Was ich in meiner Schnelltest-Version von Urlaub übersprungen habe, ist die Zeit der Vorfreude. Oft planen wir die vermeintlich schönste Zeit des Jahres lange im voraus. Je näher der Termin rückt, desto härter arbeiten wir darauf hin, in der Hoffnung, vorher noch “alles erledigen” zu können. Holidaily begleitet Teilnehmer der Studie schon in dieser Zeit vor dem Urlaub. Es hilft, die Planung zu strukturieren und die Vorfreude zu kultivieren, ohne überzogene Erwartungen aufzubauen.
Wer an der Studie teilnimmt, wird ausserdem gebeten, sechs online-Befragungen auszufüllen: Zwei Wochen vor dem Urlaub, kurz vor Beginn, während des Urlaubs und danach bitten die Lüneburger Wissenschaftler die Teilnehmer um Angaben darüber, wie erholt sie sich fühlen. Auch wie sie mit der App zurecht gekommen sind, wollen die Entwickler von den Urlaubern natürlich wissen. “Das hilft uns, zu verstehen, wie Urlaub funktioniert. Und es gibt uns wertvolle Hinweise darauf, wie wir Holidaily besser machen können,” erklärt Professor Lehr. Die Fragen ermitteln den Erholungszustand nach dem wissenschaftlichen Model von psychologischen Mechanismen, auf dem auch die App basiert.
Die Lüneburger Forscher sprechen von den “DRAMMA – Erholungsdimensionen”. Das Akronym steht für
Gedankenfreiheit / geistigen Abstand von der Arbeit (detachment)
Entspannung (relaxation/recovery)
Kontrolle, Selbstbestimmtheit (autonomy)
Herausforderungen, Bewältigung (mastery)
Sinn, Bedeutng (meaning)
Verbundenheit (affiliation)
Das von ihnen verwendete Modell ist angelehnt an eine Publikation* aus dem Jahr 2013, derzufolge diese sechs psychologischen Mechanismen das subjektive Wohlbefinden in der Freizeit erhöhen. Sie haben die kleinen Dailys so entwickelt, dass sie diese Mechanismen der Erholung anregen oder unterstützen. Zu jedem Daily zeigt ein kleines Symbol an, welche der Dimensionen in der Übung gestärkt wird. Während des Urlaubs, und bereits davor, trainieren wir mittels der App, uns aktiv zu Erholen. In einem ganz anderen Sinne als beim Bungyjumpen, Free Climben oder Segelfliegen – im besten Fall nachhaltiger. “Die Übungen sind keineswegs neu oder besonders innovativ,” sagt Jo Annika Reins, “denn im Grunde wissen wir alle, was uns gut tut. Die App soll uns täglich auf eine niedrigschwellige Art und Weise daran erinnern.”
Mein Virturlaub geht nach zehn Tagen zu Ende, und: fast hätte ich es nicht gemerkt! In den Tagen nach dem Urlaub bekomme ich weiterhin die Aufgabe, einen Daily zu erledigen und eine Anfrage nach meinem Befinden. Doch tatsächlich hat sich Holidaisy, mein kleiner Avatar, am Tag nach dem Urlaub sofort wieder in ihr Büro Outfit geschmissen. Auch einige neue Dailys tauchen auf, Urlaubsbilder sortieren, Checkliste auf dem Schreibtisch anlegen – ah doch, ich bin wieder im Alltag und Holidaily mit mir.
Offensichtlich haben die vergangenen zwei Wochen bei mir etwas bewirkt: Meine Erholungskurve hat nicht nur mein vorgegebenes Ziel erreicht, sie ist sogar deutlich darüber gestiegen.
Drei Tage nach meinem Urlaub habe ich 82% der gesundheitlich empfohlenen Punkte erreicht. Prima, finde ich, super App. Doch dann komme ich ins Grübeln: Brauche ich jetzt für den Rest meines Lebens die App, um mich erholen zu können, frage ich Frau Reins. Sie antwortet wieder einmal mit Augenzwinkern: “Selbstverständlich soll niemand für den Rest seines Lebens auf diese App angewiesen sein!” Wieso aber, haben sie und ihre MitarbeiterInnen sich gefragt, fällt es uns im Alltag so schwer, uns auch kleine Auszeiten zu genehmigen und uns etwas Gutes zu tun? Durch die häufig wiederholte Anwendung der App “sollen die erholungsförderlichen Aktivitäten zu einer Art Automatismus werden und einen festen Platz im Alltag erhalten.”
*DOI 10.1007/s10902-013-9435-x