Russische und deutsche Wissenschaftshistoriker beobachten einen beunruhigenden Trend zur Neuinterpretation sowjetischer Wissenschaftsgeschichte. In der aktuellen Ausgabe von Current Biology rufen sie Biologen weltweit dazu auf, ihre Arbeit gegen ideologische Einflüsse zu verteidigen.
Hunderttausende demonstrierten im April diesen Jahres weltweit für wissenschaftliche Erkenntnisse als Grundlage des sozialen und politischen Diskurses. Der internationale March for Science richtete sich gegen eine wachsende Zahl von Stimmen in den USA, die Erkenntnisse über Klimaveränderungen oder auch aus der Genetik ignorieren oder bestreiten. Auch gegen die wachsende Unterdrückung von Wissenschaftlern durch die Regierung in Ungarn oder der Türkei demonstrierten die Marschierenden. Von einem Trend in Russland, sowjetische Wissenschaftsgeschichte neu zu interpretieren, berichtet jetzt eine Gruppe von Biologiehistorikern und -didaktikern aus Jena und St. Petersburg. Im Mittelpunkt der besorgniserregenden Strömung stehen die Lehren des Biologen Trofim Denisovich Lyssenko (1898 – 1976, Bild oben). Er begründete das Konzept des Lyssenkoismus, ein pseudo-wissenschaftliches Konstrukt, das von der großen Mehrheit aller Wissenschaftler heute als Teil der totalitären Vergangenheit einiger Ostblockstaaten betrachtet wird.
Lyssenkos Forschung und Lehre richteten sich in den 1940er und 50er Jahren gegen die Forschungsergebnisse westlicher Biologen. Die Thesen führender Genetiker wie Morgan (der die Chromosomen der Fruchtfliege kartierte) oder Weismann (der die Idee einer Keimbahn prägte) standen im Widerspruch zur marxistischen Ideologie des Sowjetregimes. Die nämlich basiert auf der Annahme, die materielle Realität beeinflusse den Menschen als biologisches und soziales Wesen. Analog zu der Vorstellung, der Mensch entwickele sich als Reaktion auf Veränderungen in der materiellen Umwelt, vertrat Lyssenko die These, Pflanzen könnten durch äußere Einflüsse gezielt manipuliert werden. In Anlehnung an Neo-Lamarckistische Konzepte hielt er es für möglich, vererbbare Eigenschaften zu induzieren. Er stellte Stalin in Aussicht, binnen weniger Jahre Getreidesorten zu züchten, die in den kalten nördlichen Gebieten der Sowjetunion gedeihen würden. Kolchinsky, Erstautor des nun veröffentlichten Appells, und seine Kollegen stellen jedoch klar: Lyssenkos Argumente basierten auf der Vereinbarkeit mit dem Marxismus-Leninismus statt auf wissenschaftlichen Experimenten.
Mit Stalins Unterstützung machte Lyssenko schnell Karriere als Wissenschaftler: Er wurde Präsident der Lenin-Akademie der landwirtschaftlichen Wissenschaften und Direktor des Institutes für Genetik an der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften. Zahlreiche sowjetische Wissenschaftler waren zuvor Opfer der “großen Säuberung” geworden, kaum jemand wagte es, den politisch einflussreichen Lyssenko und seine Thesen zu kritisieren. Eduard Kolchinsky kennt selber Wissenschaftler, die im Gulag für ihren Widerspruch gegen die herrschende Ideologie büßen mussten. Auch über die Grenzen der Sowjetunion hinaus gewann der Lyssenkoismus für einige Zeit Anhänger. Einer von ihnen war Georg Schneider, in den 1940er und 50er Jahren Direktor des Ernst Haeckel Hauses, dem damaligen Jenaer Institut für Geschichte der Zoologie, insbesondere der Entwicklungslehre*. Er experimentierte mit Lurchen, denen er beispielsweise Organe anderer Tiere einpflanzte, in der Absicht, vererbbare Eigenschaften von einer Spezies auf die andere zu übertragen.
Nach dem Sturz Nikita Chruschtschows verlor Lyssenko seine führende Position und bald brach das Gedankengebäude seiner Ideologie zusammen. Kolchinsky erlebte in den späten 1960er Jahren, wie die einschlägige Lehre und Forschung in Russland sich unter dem Einfluss westlicher Genetiker von den Zwängen des Stalinismus befreite und erholte. In den vergangenen Jahren jedoch beobachten er und seine Jenaer Kollegen einen beunruhigenden Trend zur Neuschreibung mancher Aspekte sowjetischer Wissenschaftsgeschichte. Parallel zu wachsender Sympathie in der Gesellschaft für Stalin und seine Prinzipien mehren sich die Stimmen neuer Anhänger des totgeglaubten Lyssenkoismus.
Kolchinsky und seine Koautoren erkennen Zusammenhänge mit isolationistischen Bestrebungen russischer Politiker und Verbindungen von neo-Lyssenkoisten zu Antisemiten. Zudem fühlen sich Anhänger des erstarkenden Kreationismus und Gegner genetisch manipulierter Organismen durch Lyssenkos Lehren bestätigt. Kolchinsky zufolge gibt es mehrere Quellen der neo-lyssenkoistischen Strömung: Die ersten Werke pro-lysenkoistischer Autoren erschienen in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre und waren ideologisch motiviert. Darauf folgten Werke biologisch gebildeter Lyssenko-Verfechter, darunter Bücher seines früheren Doktoranden Petr Kononkov. Er beschreibt seinen Lehrer als patriotischen Humanisten, dessen Erfindungen dazu beitragen sollten, die Nahrungsmittelknappheit seiner Heimat zu lindern. Auch im Sinne derzeitiger geopolitischer Interessen Russlands sei Lyssenkoismus ein hilfreiches (Forschungs-)Konzept.
Anerkannte russische Wissenschaftler versuchen zudem, seine Thesen als frühe Erkenntnisse der Epigenetik umzudeuten. Die Biologiehistoriker um Edouard Kolchinsky zitieren dagegen Forschungsergebnisse aus der Epigenetik, die Lyssenkos Annahmen widerlegen. Sie warnen in ihrem Essay eindringlich davor, (neo-)Lyssenkoismus und Epigenetik auch nur im Entferntesten miteinander in Verbindung zu bringen. Biologen weltweit fordern sie auf, ihre Zunft und deren Erkenntnisse gegen jede Art von ideologisch motivierter Beeinflussung zu verteidigen.
*heute: Institut für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik.
Link zum Essay in Current Biology: Russia’s new Lysenkoism, Current Biology, Volume 27, Issue 19, R1042-R1047