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Der Gegensatz ist fast unerträglich: Während hunderte von Millionen weltweit Hunger leiden, futtern sich ähnlich viele Menschen ein ungesundes Körpergewicht an. Ein Geheimrezept für den Kampf gegen das eine oder das andere gibt es nicht, wohl aber Mittel, die Hunger wie Fettleibigkeit gleichermaßen entgegenwirken.

 

Zwei Meldungen machten am Freitag die Runde, deren Inhalt nicht stärker kontrastieren könnte. “Die Zahlen sind alarmierend,” heißt es im Auftakt einer Pressemeldung des Leibniz-Instituts für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS). Von “einem uneinheitlichen Bild” und “dramatischen Unterschieden” ist in einem Bericht der Welthungerhilfe zu lesen.

Letzterer bezieht sich auf den gerade veröffentlichten Welthungerindex (WHI, oder global hunger index, GHI), die Meldung des BIPS auf eine internationale Studie zur krankhaften Fettleibigkeit (Adipositas) bei Kindern.

Durchblick: Der Tagesspiegel berichtete sowohl vom Hungerindex als auch von zunehmender Adipositas bei Jugendlichen. Ersteres machte die Redaktion zum Titelthema. Auf der Rückseite des Berichts zum Hungerindex druckte die Zeitung eine Karikatur zur Fettleibigkeit. Bei Lichte betrachtet, bilden beide Meldungen einen irritierenden Kontrast.

Das Imperial College London und die Weltgesundheitsorganisation WHO koordinierten die Datenerhebung, für die weltweit fast 130 Millionen Kinder, Jugendliche und Erwachsene gewogen und vermessen wurden. Auch am BIPS erhobene Daten aus Europa flossen in die Studie ein. Von stark ansteigenden Zahlen fettleibiger Kinder berichten die Autoren jetzt im Fachmagazin The Lancet. Innerhalb von 40 Jahren hat sich ihre Anzahl mehr als verzehnfacht. “Das Ergebnis einer Gesellschaft, in der gesunde Nahrungsmittel teurer und schwerer zugänglich sind als ungesunde,” nennt das Professor Wolfgang Ahrens vom BIPS. 
Schwer zugänglich sind Nahrungsmittel jeglicher Art noch immer für viel zu viele Menschen auf der Welt. Das zeigt der Welthungerindex, der jährlich vom International Food Policy Research Institute (IFPRI) ermittelt wird. Ihm zugrunde liegen Werte zur durchschnittlichen Kalorienaufnahme, zum Körpergewicht pro Körpergröße und zur Körpergröße pro Lebensalter aus 119 Ländern weltweit. Insgesamt ist der so ermittelte Hungerindex seit dem Jahr 2000 zwar um rund ein Viertel gesunken. Hinter diesem Durchschnittsergebnis stecken aber vielfältige und teilweise schockierende Beschreibungen regionaler Zustände. Die Zentralafrikanische Republik sticht hervor als Land mit gravierenden Hungerproblemen. An der Versorgung der Menschen hier hat sich seit Jahrzehnten nichts verändert, das Land ist zerrüttelt von andauernden Kriegen.
Und in westlichen Regionen Guatemalas, das insgesamt schon fast den Sprung aus dem hellroten in die grünen Bereiche der Welthungerkarte schafft, sind an die 70 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren aufgrund von Nahrungsmangel nicht altersgemäß entwickelt. Ernste Zustände in Tadschikistan verbirgt sich hinter insgesamt niedrigem Hunger in der Gemeinschaft unabhängiger Staaten. Zudem fehlen für 13 Länder die Daten, um einen Hungerindex zu berechnen. Viele dieser Länder, zu denen auch Somalia, Südsudan und Syrien gehören, geben aber Anlass zu ernsthafter Sorge.

Asien findet in beiden Berichten – dem Hungerbericht sowie dem zur jungendlichen Fettleibigkeit – Erwähnung. Die Nahrungsmittelversorgung hat sich in dem Land in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verbessert. So dass sie der Mittelwert des Hungerindexes für Ost- und Südostasien sogar weit genug sinkt, ernste Hungersituationen in anderen asiatischen Ländern zu verschleiern. Damit einher geht der rapide und ungebrochene Anstieg des Anteils fettleibiger Kinder und Jugendlicher, erklärt Wolfgang Ahrens. 
Essen, insbesondere gutes Essen, ist essentieller Bestandteil vieler Aspekte chinesischer Kultur. Nun erleben die Menschen dort eine – für Schwellenländer typische – Umbruchphase: Die Erfahrung chronischer Nachrungsmittelknappheit älterer Generationen begründen eine positive Einstellung gegenüber einer gewissen Leibesfülle. Sie gilt als Zeichen ehrwürdigen Wohlstandes; ein “dickes Baby” ist ein schönes, gesundes Baby. Mit dem Wirtschaftswachstum der letzten Jahrzehnte sind reichhaltiges Nahrungsmittel wie Fleisch, Milchprodukte und Süßwaren innerhalb kurzer Zeit für die breite Masse erhältlich und erschwinglich geworden. Zu schnell, als das eine kulturell verankerte Mentalität sich anpassen könnte.

Auf kulturelle, sozioökonomische und politische Gründe für Hunger geht Naomi Hossain vom amerikanischen Institute of Development Studies in ihrem Essay “Ungleichheit, Hunger und Mangelernährung: Die Bedeutung von Macht” ein. Sie zeigt auf, wie politische Ungleichbehandlung und Diskriminierung zu Hunger beitragen und nennt vier “Achsen der Ungleichheit”: Geschlecht, sozioökonomische Klasse und Geografie sowie ethnische Zugehörigkeit. Darauf basierend macht sie konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Bekämpfung von Hunger. Dazu gehört, Ernährungssysteme zu demokratisieren, d.h. unterrepräsentierte und marginalisierte Bevölkerungsgruppen in Entscheidungsprozesse einzubeziehen und Regierungen regelmäßig zur Rechenschaft zu ziehen. 
Auch um die zunehmende Adipositas bei Jugendlichen zu bekämpfen, schlagen Experten politische Maßnahmen vor. Für Wolfgang Ahrens vom BIPS gehört dazu ein Verbot von an Kinder gerichtete Werbung für ungesunde Lebensmittel. Auch eine Steuer auf besonders fett- oder zuckerhaltige Nahrungsmittel wird diskutiert.

Es bleibt unsere gemeinsame Aufgabe, Hunger weltweit zu bekämpfen. Ebenso müssen wir gegen den Trend zu ungesunder und dickmachender Ernährung arbeiten. Ein Mittel, das gegen beides ein Stück weit hilft, kennen wir. Das Rezept heißt: Bildung. Gebildete Menschen haben überall auf der Welt ein geringeres Risiko, Hunger zu leiden. Gleichzeitig sind sie mit weit geringerer Wahrscheinlichkeit fettleibig als weniger gebildete Menschen. Das hat auch, aber nicht nur, damit zu tun, dass Bildung mit Wohlstand korreliert, und ein Mangel an Bildung entsprechend mit Armut. Bildung kann Menschen zu besseren Lebensverhältnissen verhelfen: Gebildete Menschen finden leichter und besser bezahlten Arbeit, sind eher in der Lage, für ihre politischen Rechte zu kämpfen, haben Mittel und Wege, sich zu informieren und sich mit qualitativ hochwertigen Nahrungsmittel zu versorgen. Und wie für Armut gilt auch für Bildung: Sie pflanzt sich fort. Die Kinder Gebildeter haben wiederum erheblich bessere Chancen, Bildung zu erlangen und einen gesünderen Lebensstandard als Ungebildete. Was bei Armut eine gravierende Gefahr ist, ist daher das große Potential von Bildung.